Experiment Raumwahrnehmungsforschung

Sylvia Günther M.A.

Experiment Raumwahrnehmungsforschung

„Experiment Raumwahrnehmungsforschung“ mit Hauptschülern der 8. Klasse im Germanischen Nationalmuseum

„Unser Bild von der Welt ist eine Synthese verschiedener Arten von Information, die durch Augen, Ohren, Nase und Bewegungswahrnehmungen vermittelt wird. Die Menschen vermischen diese Informationsarten, indem sie die Proportionen variieren und verschiedenen Wahrnehmungsarten mehr Bedeutung zukommen lassen.“ (Downs and Stea 1982, S.41)

Dies impliziert, dass Wahrnehmung zwar bei jedem Individuum grundsätzlich vorhanden ist, dennoch aber bewusst geschult werden kann, indem Informationskanäle sensibilisiert, angeregt und neue Facetten im subjektiven Verständnis integriert werden, die Wahrnehmung erleichtern bzw. überhaupt erst ermöglichen, Neues zutage zu fördern. Wahrnehmung generell dient der Aufnahme von Eindrücken, der Möglichkeit der Reflexion und letztendlich der Gestaltung. Indem raumbezogene Interaktionen „bemerkt werden“, ist eine Reaktion mit ihr bewusst möglich.

Projektskizze

Im „Experiment Raumwahrnehmungsforschung“ sollen Schüler der 8. Klassen der Nürnberger Hauptschule Bismarckstraße auf eine bewusste Wahrnehmung des Museumsraums des Germanischen Nationalmuseums sensibilisiert werden. Subjektive Raumeindrücke werden zunächst mental verortet und zeichnerisch sichtbar gemacht. Sie dienen dann als Basis für die eigene Erforschung des musealen Raumes im Hinblick auf architektonische Gegebenheiten - wie Lichtverhältnisse, Raumgrößen, Temperaturunterschiede etc. - oder funktionale Gegebenheiten - z.B. Kommunikationsplattformen, Ausstellungsflächen.

Schüler und Lehrer lassen sich auf Methoden ein, bei denen der Ausgang ungewiss ist. Die Möglichkeit des persönlichen Einbringens (vor allem das der Schüler), des Recherchierens und des Gefühls, in „unkonventionellen“ Bahnen zu agieren, hat Motivationscharakter und hinterlässt den Eindruck der Authentizität des Forschens.

Die Schüler sollen die Möglichkeit zu selbständigem Entdecken und Beobachten haben. Aufgaben- und Zielstellung werden gemeinschaftlich (Lehrer/Schüler) erarbeitet und selbst definiert.

Raum wahrnehmen I

  1. Gang durch das Museum
  2. Visualisieren der Eindrücke - Erstellen einer mental map (zeichnen einer Karte mit subjektiv wichtigen Orten im Museum)
  3. Betrachten und Verbalisieren der Ergebnisse im Plenum 

Raum wahrnehmen II

  1. Brainstorming (Was nehme ich in einem Raum wahr?) – Ergebnisse werden schriftlich festgehalten (Cluster) – Versuch zu kategorisieren (architektonische, museumstypische, atmosphärische Gegebenheiten)
  2. Kleingruppenarbeit – Erstellen eines Fragenkatalogs - gezielte Spurensuche im Museum
  3. Kartographieren der Raumsituation

Raum erforschen

Erforschen der Atmosphäre eines Raumes.

  1. Die Schüler verweilen längere Zeit (ca. halbe Stunde) an einer Stelle an dem Ort im Museum, den sie beim ersten Gang als angenehm, interessant wahrnahmen, und den sie auf der Spurensuche kartographierten. Mit Hilfe des Clusters wird die Wirkung der einzelnen Elemente im Raum auf den Schüler festgestellt und in Wort (Text) und Bild (Foto, Video) festgehalten.
  2. Präsentation mit anschließender Diskussion

Auswertung der Eindrücke durch die Schüler

Um einen ersten Eindruck zu gewinnen stand am Anfang des Projekts eine Begehung des Museums ohne nähere Erklärungen zu einzelnen Objekten oder Wegen. Schülerkommentare bezogen sich sowohl auf unterschiedliche Raumtemperaturen, als auch auf Gerüche, die wahrgenommen wurden. Sie sprachen miteinander über Bilder, Objekte, ungewöhnliche Raumsituationen, wie Nischen oder Durchbrüche, stellten Fragen und zeigten sich interessiert an einzelnen Ausstellungsgegenständen. 

Nach dem Rundgang erinnerten die Schüler, was sie wahrnahmen und stellten dies skizzenhaft, in Form von mental maps dar. Für Treppen, Gänge, Ausstellungsobjekte etc. wurden Symbole gefunden und besondere Auffälligkeiten beschriftet.

Anhand der Skizzen versuchten sie nun ihre Wahrnehmungsergebnisse zu versprachlichen und ihren Mitschülern näher zu bringen. Architektonische Gegebenheiten wie Lichtverhältnisse, Größen, Baustile, Gerüche Temperaturen, Säulen, Treppen, Gänge, Übergänge, Ausstellungsräume, Türen, Wege etc. kamen dabei automatisch zur Sprache.

Jeder Schüler nahm außerdem einen oder mehrere Orte im Museum als bemerkenswert wahr, die im Anschluss, aufgrund der vorher genannten architektonischen Aspekte näher erforscht wurden.

Die Schüler schlossen sich in Gruppen zusammen und gingen auf Spurensuche in den von ihnen ausgewählten, d.h. preferierten Räumen. Es wurden Fragenkataloge erstellt, mit Hilfe derer die Jugendlichen Raumsituationen kartographierten. Die Skizzen entwickelten sich zu detailreichen Landkarten.

In einem letzten Schritt wurde die Raumatmosphäre genauer unter die Lupe genommen. Durch das längere Verweilen an einem Ort im Museum konnte die Raumsituation intensiv wahrgenommen werden. Folgender Text entstand in der Sammlung „Kunstwerke im 20.Jhd.“: „Ich fühl mich eingeengt. Der Raum stellt für mich eine Unterdrückung dar. Die Kunstwerke sind verklemmt. Überall sind Durchgänge. Ich fühle mich als wäre ich in der Mitte des Gebäudes. Ich fühle mich allein.“ (Yusa)

An die folgende Präsentation der Handyvideo-Dokumentationen schloss sich eine Diskussion nach den Möglichkeiten der Veränderung von Lichtverhältnissen oder Musikbespielungen in unterschiedlichen Räumen an. In versponnenen Museumsvisionen fand das Experiment „Raumwahrnehmungsforschung“ seinen Abschluss.

Fazit

Die Schüler erschlossen sich selbstständig, begleitet durch die Moderation des Lehrers, Teilbereiche der Architektur des Germanischen Nationalmuseums, wie die Dimensionen eines Raumes und die Bedeutung von Licht und Atmosphäre. Das Arbeiten in Teams und die damit verbundene Übernahme von Verantwortung, die Anerkennung von Kompetenzen anderer und die Bewältigung von Konflikten stellen Schlüsselkompetenzen dar, die durch die Projektarbeit gefördert wurden. Das Zeichnen schneller oder detailierter Skizzen rückte das Gesehene erst ins Bewusstsein und führte, mit dem Handwerkszeug der Architekten, in das Denken in räumliche Zusammenhänge ein. Die Architekturwahrnehmung,-erforschung und -darstellung erzeugte ein intensives Verständnis unterschiedlicher Sichtweisen räumlicher Situationen und ließ den musealen Raum ein Stückchen weiter in die Lebenswelt der Jugendlichen dringen.  „Atmosphäre / wunderbar“ (Afonzo)

 

 

Literatur:

Downs, M.R. und Stea, D. (1982): Kognitive Karten: Die Welt in unseren Köpfen. New York: Harper & Row (= UTB 1126).

Heintel, Martin (1994): Wahrnehmung und Reflexion – Spurensicherung im städtischen Lebensraum: Ein didaktisches Experiment. In: erziehung heute, Heft 4, S.33-37. Innsbruck: Studienverlag.